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Vorbemerkungen

In der Vorbereitung des Versuchs, mehr aber noch in seinem Verlauf und in der Zusammenfassung ergaben sich Differenzen zu vorgefundenen Begriffen und Ideen. Für das Verständnis des Berichts sollen mit den nachfolgenden Vorbemerkungen adäquate Begriffe bereitgestellt werden.

Wahrnehmung
Als Wahrnehmung soll im Folgenden zunächst der Gesamtvorgang der Sehwahrnehmung bezeichnet werden ohne Rücksicht auf räumliche oder funktionale Lokalisation. Hierin wird an den auch von Hering verwendeten Begriff der Sehsubstanz angeknüpft, der räumlich den Sinnesapparat vom Glaskörper bis zum Sehfeld im Gehirn erfasst und dem funktional eine lange Reihe von Anpassungs- und Abstimmungs-Erscheinungen wie Fokussierung, Adaption, Stoffwechsel zugerechnet werden.
Diese Vorgänge in der Sehsubstanz dienen offenbar der Optimierung des Sehvorgangs. Obwohl eine ausführliche Beschreibung der einzelnen Prozesse hier keinen Raum finden kann, muss festgehalten werden, dass diese Optimierung nicht in erster Hinsicht auf eine mit der Aussenwelt möglichst übereinstimmende und “getreue” Übermittlung der Wahrnehmungsobjekte ausgerichtet ist. Für diesen Bericht wird davon ausgegangen, dass das hochreaktive Geschehen in der Sehsubstanz nicht einem rein perzeptiven Zweck dient (Hering 1872; Gellhorn 1926).
Wie Hering in verschiedenen Untersuchungen belegt hat, handelt es sich bei diesem Geschehen um homöodynamische Prozesse, deren Resultat ein Zustand dynamischer Ruhe und Ausgeglichenheit in der Sehsubstanz ist. Bei Späterblindeten stellt sich das “Eigengrau” als ein mittlerer Zustand des Sehens ein, in dem die assimilierenden und dissimilierenden Prozesse ein Gleichgewicht finden (Jacob 1949, 15-18). Für den Temperatursinn stellt sich eine “Nullpunktstemperatur” auf unterschiedlichem Niveau ein, wenn aufgenommene und abfließende Wärme in der Summe gleich sind (Hering 1877, 127 ff).
So bewirkt die Optimierung der elektrischen, chemischen und zellulären Vorgänge einen permanent labilen Zustand des Sinnesorgans als Voraussetzung für eine anhaltende Bereitschaft seiner Funktionsfähigkeit unter wechselnden Umständen (Cannon 1963; Hering 1872; Hering 1877).

Urteil
Sinneswahrnehmung ist kein Selbstzweck. Sie dient dem Bewusstsein. Auch wenn das Zusammenspiel zwischen Wahrnehmung und Bewusstsein nicht der Hauptgegenstand der Untersuchung war, weisen alle relevanten Phänomene auf dieses Grenzgeschehen hin.
Eine interpretierende Instanz, mit der Wahrnehmung verknüpft, wird auf nahezu triviale Weise in den Beispielen sogenannter optischer Täuschungen offenbar. Manche dieser Täuschungen verschwinden bereits durch Erklärung des Gesehenen. Andere lassen sich – wie in einem Vorversuch
(1) – durch Gewöhnung, wieder andere durch eine geänderte innere Haltung und Absicht durchschauen und auflösen.
Frappant ist der von Manfred Spitzer referierte Versuch mit Menschen einer Kultur, der die Referenz einer geraden Linie nicht bekannt ist. Dort erzielten die mit einwärts und auswärts zeigenden Pfeil-Enden versehenen Linien (Müller-Lyer) überhaupt keine Irritation und wurden unmittelbar als gleich lang erkannt (Spitzer 2006).
Dass die Sehwahrnehmung mit verschiedenen interpretierenden Instanzen des Bewusstseins und mit diesen bidirektional zusammenarbeitet wird an den Phänomenen der Form- und Größenkonstanz, sowie an pathologischen
Störungen dieser Zusammenarbeit und auch durch gesteigerte Aufmerksamkeit deutlich (Ramachandran 2002, 377-380). Auf welche Weise wahrgenommene Bilder unserem Verständnis eingegliedert und beurteilt werden, wird durch innere Gestimmheit, Vorstellungen und Erwartungen beeinflusst (Spitzer 2004, 181 ff; Katz 1948).


1) Auf einem Blatt Papier wird eine konzentrische, gleichabständige Kreisschar durch eine Gerade als Tangente eines mittleren Kreises geschnitten und erscheint als vom Kreis-Zentrum fort gekrümmt. Nach wiederholtem Betrachten über einige Tage verschwindet der Krümmungsaspekt allmählich und tritt wieder auf, wenn das Blatt um einen beträchtlichen Betrag gedreht wird. (Siehe Anhang)

Motorik
Die Erscheinungen der Motorik grenzen sich zeitlich, räumlich und funktional von Wahrnehmung und Wahrnehmungs-Interpretation ab. Wahrnehmung und Beurteilung des Wahrgenommenen treten gemeinsam auf, Bewegung und Handlung sind radikal davon abgekoppelt. In der Wahrnehmung nehmen wir Reize aus unserer Umgebung in unser Bewusstsein auf, mit Motorik üben wir aus unserem Bewusstsein heraus Reize auf unsere Umgebung aus.
Die Intentionalität zeigt zur Wahrnehmung ein polares Verhältnis auf: Bei konzentrierter Hinwendung zu einem Wahrnehmungsobjekt dränge ich alles Motorische soweit als möglich in den Hintergrund, bei intensivem Handeln hingegen sind nach aussen gerichtete Wahrnehmungsvorgänge auf ein Minimum reduziert.
Die Beobachtungen und Ereignisse, die in diesem Bericht beschrieben sind, unterstreichen diese Abkoppelung und erfordern diese deutliche Abgrenzung des Motorischen.

Wahrnehmen > Urteilen |                                    < Handeln

Hinleitung zum Versuch

Eine Anregung zu dem durchgeführten Brillenversuch ist dem Kätzchenexperiment von Richard Held und Alain Hein (Held & Hein 1963) zu danken. Dieses äusserst ästhetische Experiment steht in der Folge der Kohler’schen Versuche mit Störungsbrillen und erregt auch die Aufmerksamkeit von John C. Eccles, der es als “elegant” beschreibt und wie Held aus den Ergebnissen die Bedeutung der Eigen-”Aktivität” beim visuellen Lernen hervorhebt (Popper & Eccles 1988, 485).
In diesem Experiment werden zwei Kätzchen aus gleichem Wurf in einem Rondell den gleichen optischen Reizen ausgesetzt. Während eine Katze ihre Umgebung aktiv erkundet, wird die andere in einer Aufhängung passiv den gleichen Reizen ohne eigene körperliche Bewegung ausgesetzt. Anschließend werden beide Katzen auf einen Balken gesetzt, der auf der einen Seite bequem zu verlassen ist, auf der anderen einen gefährlichen Abgrund vorspiegelt. Die aktive Katze springt zu 100% an der ungefährlichen Seite vom Balken, die andere zeigt ein völlig zufälliges, randomisiertes Verhalten. Die von Held vermutete Beziehung “zwischen sensorischen und motorischen
Vorgängen” wurde in einer Reihe von Versuchen hinsichtlich einzelner Aspekte untersucht. (Hein & Held 1958; Held & Bossom 1961; Held & Freedman 1963)
Die Innsbrucker Brillenversuche, insbesondere die von Ivo Kohler (Kohler 1951) durchgeführten, gaben einen weiteren Impuls. Diese Versuche waren variantenreich und sollen nur in den relevanten Aspekten hier aufgegriffen werden. Neben Experimenten mit Halb-Prismen und seitenvertauschenden und Farb-Halb-Brillen haben die Umkehrbrillen (obenunten-Spiegelung) einen besonderen Rang eingenommen, wohl wegen der Anzahl der Versuche, nicht zuletzt aber auch wegen eines Films über diese Experimente.
Als grundlegende These für die Störungsexperimente nimmt Kohler an, die Wahrnehmung ließe sich durch eine gezielte Störung in einen Anfangszustand versetzen, und an dem Wiederaufbau sollen Kenntnisse über den Aufbau des Wahrnehmungsprozesses gewonnen werden. Diese These deckt sich mit der Annahme Helds, der nach dem Ende des Kätzchenexperiments eine völlig normale Weiterentwicklung der passiven Katze vermerkt (Held & Hein 1963).

Trotz der augenfälligen Aspekte des Lernens und einer damit verbundenen Entwicklung werden diese Aspekte in beiden Versuchsgruppen nicht in den Mittelpunkt der Beobachtung gestellt, sondern der “Gewöhnung” (Kohler) oder einem “Mechanismus” (Held) überantwortet.
Kohler insinuiert eine nicht definierte Instanz, die “empfindungsmäßige” Wahrnehmung verursacht und nennt die Erscheinung in unmittelbarer Anlehnung an den bedingten Reflex “bedingte Empfindung” (Kohler 1951, 10) und geht so weit, anzunehmen, dass “die Empfindungen gelernt haben, gewisse Umstände [der Wahrnehmung] auf eine vernünftige Weise mitzuberücksichtigen.”
(2)
Obwohl er selbst von einem “primitiven Denken” des Wahrnehmungsorgans spricht, klammert er dennoch dieses Geschehen aus dem Bewusstsein aus und verweist diese Vorgänge an nicht näher bezeichnete Empfindungen und Erfahrungen.

1)   Der auch von Kohler zitierte Ewald K. Hering hingegen spricht bezüglich der Sehwahrnehmung – in aristotelischem Sinn – von der "Sehsubstanz", worin er räumlich und funktional das gesamte Organ-Geschehen vom Glaskörper des Auges bis zu den verarbeitenden Gehirnarealen zusammenfasst. Dieser Gesamtheit von chemischem, elektrischem und zellulärem Geschehen ordnet er ein homöodynamisches Bestreben zu und hält die Sehsubstanz für intelligibel. ("Farben sind ein Geschöpf der Sehsubstanz")

In den Versuchen von Held ist die Betrachtung des Zusammenspiels von Wahrnehmen und Handeln auf einen Mechanismus reduziert, der sowohl das Lernen (“Aufbau”), die Homöodynamik (“Aufrechterhalten”) als auch den Wiederaufbau (rearrangement) der Wahrnehmung besorgen soll. (Held 1986)
Die von Kohler geforderte Trennung von motorischer Anpassung und Seh-Geschehen in hinkünftigen Versuchen sollte in dem durchgeführten Versuch berücksichtigt werden (Kohler 1953, 5). Dennoch hätte die weitreichende Bedeutung dieser Vorgabe nicht die gebührende Beachtung gefunden, wenn nicht die Beschreibung eines Phänomens durch Antonio R. Damasio einen vertieften Ansatz für die sensorisch-motorische Anpassung gegeben hätte.
Damasio berichtet 1994 von einem Patienten mit ventromedialer präfontaler Gehirnschädigung (Damasio, 1997, 78-85). Der Patient erschien an einem Tag mit schwierigen Verkehrsverhältnissen durch Glatteis völlig unbeeindruckt in der Praxis und schilderte die vorgefundenen Verkehrsprobleme nüchtern und sachlich zutreffend. Auch seine eigene Lage und sein Verhalten darin konnte er angemessen beurteilen.
Als ihm jedoch zwei verschiedene Termine zur Auswahl für einen nächsten Besuch vorgeschlagen werden, gerät er für eine halbe Stunde in die Not, hierzu eine Entscheidung zu finden. In ruhig überlegter Weise stellt er eine ausufernde Analyse von Aufwand und Nutzen der wählbaren Termine an, führt eine endlose Summe von Fakten und Konsequenzen an, die den Beobachtern völlig überflüssig erscheinen. Dieses Verhalten wurde erst dadurch beendet, dass ihm mitgeteilt wurde, er habe zu dem zweiten Termin zu erscheinen. Die unerwartete Reaktion war knapp und emotionslos, und der Vorgang wurde mit einem “in Ordnung” abgeschlossen.

Zwischen Wahrnehmen und Handeln

Damasios Patienten zeigen durch eine pathologische Störung auf, wie eine normale Wahrnehmung, verbunden mit normaler Urteilsfähigkeit keinesfalls Gewähr für normale Handlungen bietet. Elliot und weitere waren durchaus in der Lage, sich aufgrund ihrer Wahrnehmungen ein zutreffendes Urteil, sowohl über einfache als auch komplexe (soziale) Situationen und auch die eigene Person zu bilden. Alle diesbezüglichen Tests und Beobachtungen ergaben normale bis überdurchschnittliche Werte (Damasio 1997, 82-83). Lediglich die Fähigkeit, diese Beurteilungen in Handlungen
umzusetzen, befand sich auf einem extrem niedrigen, sozial nicht akzeptablen Niveau.
Zwischen Menschen und Kätzchen, die nicht zu angemessenen Handlungen kommen, bestehen selbstverständlich prägnante Unterschiede, sowohl in den neuronalen Voraussetzungen als auch in der Komplexität von Bewegung und Handlung. Dennoch ist für beide ein gleiches Prinzip erkennbar:

Wahrnehmung > Urteilen | Entscheiden < Handlung

Wir wissen nun nicht, ob das Kätzchen zu einem falschen Urteil oder zu einer falschen Entscheidung kam, als es an der gefährlichen Seite vom Balken sprang. In diesem Fall jedoch Folgerungen auf eine sensorisch-motorischer Anpassung ziehen zu wollen erscheint nicht schlüssig. Wäre ein senso-motorischer Fehler für das randomisierte Verhalten der passiven Katze verantwortlich, so hätten weitere Bewegungsstörungen auffallen müssen. Davon ist nichts berichtet.
Die Bedeutung dieser Differenzierung ist für das durchgeführte Brillen-Experiment erheblich.
Die Phänomene der im Versuch gestörten Wahrnehmung müssen in zwei verbundene, funktional unterschiedliche Gruppen gegliedert werden. Einerseits Wahrnehmen und Urteilen, andererseits Entscheiden und Handeln.
Die zunächst kausal gerichtet erscheinende Kette von wahrnehmen, verarbeiten, handeln erweist sich bei genauerer Betrachtung als virulentes Zusammenspiel. Zwar erscheint der Anfangsimpuls in der Wahrnehmung, die darauf folgenden Vorgänge stehen jedoch in in lebhaftem Austausch und wirken auch auf die Wahrnehmung zurück.
Das Gesamtgeschehen ergibt ohne Intentionalität jedoch keine gerichtete Ereigniskette. Erst durch Absichten ordnet sich das Geschehen zwischen Wahrnehmen und Handeln einem Zweck unter und bewirken eine sinnstiftende Ausrichtung auf ein Ziel.
Wie stark diese phänomenale Größe auf die Wahrnehmung wirkt, beschreibt Kohler in einem Farb-Brillen-Versuch (Kohler 1951, 89). Auch durch Eigenbeobachtung lässt sich ein signifikanter Unterschied bemerken, wenn das gleiche Netzhautbild durch Augenwendung oder durch Kopfwendung zum Wahrnehmungsobjekt hin erzeugt wird.

Nach aussen und nach innen gerichtete Sinne

Die im Versuch erlebten Phänomene erfordern eine genauere Betrachtung des Koordinationsproblems.
Die Sehwahrnehmung zeigt uns ein zweidimensionales Bild, wohingegen die Bewegungen der Körper auf drei Raumesachsen erlebt werden. Diese Unterschiedlichkeit in der Wahrnehmungs-Konstitution veranlasste von Allesch und Kienle anzunehmen, dass für den Seh-”Raum” eine andere Raumstruktur gegeben sei als für den phänomenalen Raum (v. Allesch 1931; Kienle 1986). Hering bezeichnete das Verhältnis gar als inkommensurabel. Die Darstellung der Eigengesetzlichkeit der Seh-Wahrnehmung erfährt eine besonders prägnante Darstellung in den Arbeiten von Georg Maier, der konsequent von einer “Optik der Bilder” spricht (Maier 1986). Deutlich unterschieden wird hier, auf welchen Wegen wir durch unsere Sinne von den Aussendingen Nachricht erhalten (Maier 2008, 46 ff).
Beim Tragen einer Umkehrbrille tritt notwendigerweise das Bedürfnis einer Differenzierung auf. Fällt die Aussenwelt in eine gesehene und eine berührte auseinander, reicht das Konzept von Sehsinn und Tastsinn nicht mehr hin. Dann wird überdeutlich, wie man sich erst einmal zu den Tast-Erfahrungen hinbewegen muss, wie auch beim “Tasten” selbst ständig Bewegungen ausgeführt werden: Tast-Bewegung. Das Berührungserleben gibt mir keinen Aufschluss von den räumlichen Ausdehnungen und Befindlichkeiten der Körper, auch nicht meines eigenen.
Durch den Tastsinn erlangen wir Nachricht von den Oberflächen der Körper, ob sie rau sind oder glatt, ob weich oder hart. Gleichzeitig treten Wahrnehmungen über Druck und Wärme auf. Für alle anderen Wahrnehmungen an den Berührungspunkten unseres Körpers mit der Aussenwelt müssen wir unseren Körper oder seine Glieder bewegen.
Von einem eigenen Sinn für die Bewegungen unseres Körpers auszugehen liegt nahe, doch genügt es für das Verständnis dieses Berichts, die Eigenbewegung als Teil der Propriozeption zu verstehen. Aus diesem Blickwinkel erledigt sich nicht nur das Problem der Inkommensurabilität zwischen Sehbild und Raumerfahrung, auch verschiebt sich die Frage der Bewegungs-Koordination in einen sinnvollen Zusammenhang. Anstatt hier auf eine nicht schlüssige Senso-Motorik zu schauen, tritt mit der geschilderten Auffassung eine Relation zwischen zwei konkurrierenden Sinnen ein.

Die Raumesachsen

Wird darauf verzichtet, dem Seh-Bild Aspekte von Tiefe und Räumlichkeit zuzuschreiben, und wird das Tasten als Bewegungswahrnehmung präzisiert, so ist unsere Erschließung des phänomenalen Raumes überwiegend diesem Sinn für Bewegung geschuldet. (Vgl. Sacks 1990, 103 ff).
Das Vermögen, anscheinende Größenverhältnisse zwischen den Objekten des Seh-Raumes herzustellen, bleibt davon unberührt. Wie ein unerfahrenes Bewusstsein interpretiert ist von Kaspar Hauser überliefert, der sowohl in seiner Bewegung als auch in der vergleichenden Seh-Wahrnehmung verhindert war. Er berichtet, auf seinem Weg nach Ansbach große und kleine Kühe gesehen zu haben. Der Einfluss der Perspektive auf die Objektgröße war ihm unbekannt.
Die Erschließung unserer räumlichen Umwelt erweist sich bei vertiefter Betrachtung als synthetisierende, einerseits in Bezug auf die Sinnestätigkeiten, ebenso in Bezug auf die Vorstellungsbildung. Eine Vorstellung des dreidimensionalen Raumes konstruieren wir lediglich als zusammengesetzte Abstraktheit. Hierzu ein Gedankenexperiment.(2)

2) Einen Eindruck von der Begrenzheit unserer Raumerfahrung erhält man durch diese einfache Vorstellungsübung:

I. Stellen Sie sich einen Würfel als Raumgebilde vor
II. Stellen Sie sich eine Kugel vor
III. Stellen Sie sich an einem Ort innerhalb der Kugel vor
IV. Stellen Sie sich an einem anderen Punkt als dem Mittelpunkt der Kugel vor

In den allermeisten Fällen zeigen sich hierbei ähnliche Ergebnisse:

I. Der Würfel entsteht aus einer Fläche (die auch konstruiert sein mag), der mit einer weiteren Achse Räumlichkeit gegeben wird.
II. Die Vorstellung der Kugel erfolgt von der Oberfläche her, die dann gekrümmt wird oder wird von ihrem Mittelpunkt anwachsen gelassen.
III. Die von innen vorgestellte Kugel hat ihre Oberfläche in Reichweite der Körperglieder.
IV. Hier gerät das Vorstellungsvermögen an seine Grenze und manchen Menschen ist diese Vorstellung nur schwer oder garnicht möglich.


Real und konkret hingegen sind unsere Vorstellungen der Raumesachsen, in deren Zentrum wir uns selbst lokalisieren. Diese sind: oben-unten, vorne-hinten, links-rechts. Diese Achsen stimmen zwar mit dem geometrischen Verständnis von x, z und y überein, weisen jedoch deutlich unterscheidbare Qualitäten in der Vorstellung und der Erschließung des Raumes auf (Buytendijk 1956, 43-54).

Urteilen mit Umkehrbrille

Für das Verständnis des Experiments wird im Folgenden nicht von einer senso-motorischen Störung sondern von den konkurrierenden Sinnen des Sehens und der Bewegung ausgegangen. Der gesamte Versuchsverlauf gibt keinerlei Hinweise auf eine motorische Störung wie anhand der einzelnen Berichte und des vorliegenden Filmmaterials erkennbar ist. Auch fehlt jedes Indiz für eine Fehlbeurteilung bei einem der interferierenden Sinne, wiewohl die gegenseitige Störung selbst permanent zu bemerken war.
Die Interpretationen des Seh-Bildes waren fehlerlos, wenn genügend Zeit für die Urteilsbildung zur Verfügung stand. In Drucksituationen wurde jedoch dann auf ein eigenes Urteil verzichtet, wenn die Versuchsperson in Begleitung war. Die Frage, ob die gesehene Treppe nach oben oder unten führt, ist dann nicht von erheblicher Bedeutung. In den Situationen, in denen die Versuchsperson auf eigene Urteile angewiesen war, wurden solche Zweifelsfälle gründlich betrachtet und umsichtig interpretiert. Dies gilt auch und insbesondere für die Gegebenheiten ausserhalb des – stark begrenzten – Sehfeldes.
Ebenso problemlos waren die Interpretationen der eigenen Bewegungen. Sie boten in schwierigen Fällen den Rettungsweg aus dem Konflikt der Sinne. Beim Nachlegen von Holzscheiten im Ofen ober beim auswegslosen “Ankleben” der Suppenkelle am Schüsselrand konnte durch Schließen der Augen und alleiniges Vertrauen auf die Bewegungswahrnehmung eine Lösung erzielt werden. Alle spektakulären Hemmnisse der Versuchszeit traten nur dann auf, wenn Bewegungen nach dem Sehbild ausgeführt werden sollten.
Über die Lage des Körpers der Versuchsperson oder seiner Teile bestanden zu keiner Zeit Zweifel irgendwelcher Art, wie sie in anderen Versuchen beschrieben sind. (Dolezal 1982, 202 ff; Linden et al. 1999, 475)
In Bezug auf die Position des eigenen Körpers im Seh-Bild war nach dem Aufsetzen der Brille aufgetreten, dass der Abstand zu den Gegenständen auf der linken Seite als zu groß eingeschätzt wurde (s. Bericht v. 2. Tag). Die rechte Seite wurde korrekt eingeschätzt. Die unterschiedliche Abstands- Schätzung trat im weiteren Verlauf bis auf eine Ausnahme nicht weiter auf: bei einer Radtour gegen Ende des Versuchs wurde der Abstand zum rechten Straßenrand zu gering eingeschätzt (s. Bericht v. 41. Tag).

Entscheiden mit Umkehrbrille

Der Wahrnehmungsakt transportiert Erscheinungen der Aussenwelt in das Bewusstsein, wo sie interpretiert und als Urteil bewusst werden. Die zentrale Rolle kommt der Vorstellung zu, die sowohl Wahrgenommenes aufnimmt als auch Vorstellungsinhalte in den Wahrnehmungsprozess einfließen lässt. Diesem hauptsächlich aufnehmenden Vorgang gegenüber stehen die Bewegungen und Handlungen, die aus der Intentionalität ausfließen. Ähnlich wie die Wahrnehmung die phänomenale Umgebung auf unsere Vorstellung wirken lässt, wirken die Vorstellungen durch Intentionen auf die phänomenale Umgebung. Wie das Urteil die Wahrnehmung mit den Vorstellungen in Einklang bringt, so stimmt die Entscheidung die Vorstellung mit der Intention ab.

Wahrnehmung > Urteilen ↔ Vorstellung ↔ Entscheiden < Handlung

Eine einfache Form der Entscheidung finden wir in der Begriffsbildung über die Wahrnehmungsobjekte. Dass es sich beim gesehenen oder betasteten Objekt um einen Stuhl handelt, ist in der Vorstellung weitgehend klar. Ob der Stuhl jedoch ein Sitz, ein Handwerksprodukt oder teuer oder rustikal ist, ergibt sich – im Rahmen stuhlischer Möglichkeiten – aus unserer Absicht.
Für den Träger der Umkehrbrille ist der Begriff “Treppe” (gesehen) völlig unzureichend. Treppe nach oben oder Treppe nach unten? Die im eingeschränkten Sehfeld erscheinende Betontreppe gibt ihren Verlauf nicht sofort preis. Ähnlich verhält es sich mit gedeckten Tischen (wobei zusätzliche Erschwernis bei runden Tischen auftritt) und Situationen im Straßenbild. Die einzelnen Seh-Objekte sind spontan zu erkennen, welche Beziehung sie jedoch zu mir und meinen Absichten haben, erschließt sich mit Brille nicht mehr unmittelbar.
Die Vorstellung vom gesehenen Bild stimmt nicht mehr mit der Vorstellung einer intendierten Bewegung und Handlung überein, wodurch die Entscheidung – in diesem Fall die Bildung des Begriffs – erschwert oder gar blockiert wird.