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St. Paul en Jarez




So fängt es an. Es sieht aus wie eine Busreise
Menschen verstauen ihr Gepäck, wenn es unten voll ist, geht es oben weiter und lässt schon erkennen, dass es nicht so ganz und gar normal werden wird. Das sieht nach Flohmarkt aus, genauer, nach Künstlermarkt. Künstler aus Herbertingen bei Dürnau brechen in die Partnerstadt St. Paul en Jarez, unweit von St. Etienne auf (ein?).
Und ich? Bin auf einer ganz anderen Reise.
Und ich soll auch noch Jan beim Filmen unterstützen.







Schon sitzen wir im Bus, werden mit warmen Worten empfangen und auf die Fahrt und das Ankommen eingestimmt. Plastikmappen werden herumgereicht. In meiner findet sich auch meine Legitimation: Rolf, Cameraman. Jan spricht ja französisch, ich nicht, auch weil ich es nicht kann. Ausserdem lerne ich gerade spanisch, und die Frage "warum eigentlich" begleitet mich während der gesamten Reise.



Aber ich werde ebensowenig mit dem Sprach-Problem alleingelassen wie meine schwäbischen Nachbarn. Ein Blick auf die Texte und mich trifft die Erkenntnis wie ein Schlag: Das ist mein erweitertes soziales Umfeld, meine geographische Wahlheimat. Und diese Arbeit ist es doch auch wert, schon im Bus mit den Proben für die geplante Aufführung zu beginnen. Ich grüble und versuche auch, mich einzustimmen auf die kommenden Tage. Wein und Gesang?
Meine Gedanken schweifen ab.
Heute ist der grosze Tag für meinen IPod. Ich habe Knöpfe mit Musik im Ohr.




Zwischen den Sitzen hindurch sehe ich die Autobahn kilometerweise unter dem Bus verschwinden. Nicht nur das bringt uns dem Ziel näher, auch weiss Jan einiges vom letzten Besuch zu berichten und vom Französischen im Allgemeinen, was uns das Ziel näherbringt. Doch so eine Busfahrt ist lang und Jans Berichte und Erfahrungen können mich trotz seiner Mühe nicht die ganze Zeit fesseln.
Nicht nur meine Gedanken schweifen ab.

Auf der Raststätte bei Besançon stehen wir Schlange. Noch mehr Klarheit über die unmittelbare Zukunft verbreitet sich. Es wird Fleisch gegessen. Ich bin ganz wild auf Fleisch und phantasiere die Fotos an, die Appetit machen sollen. Das geht gut, bis ich dann am Tresen das Essen ganz real sehe. Irgendwie hatte ich mir doch zuviel vorgenommen und entscheide mich für Pasta (mit dünnsten Streifchen Hühnerfleisch). Das reicht ja auch.


Wir kommen an in St. Paul. Der Bus entlässt uns am Gemeindesaal am Ortsrand. Ein Imbiss tröstet uns über die Wartezeit hinweg. Wir werden freundlich begrüszt, schütteln Hände und wer schon mal da war und etwas dafür übrig hat, begrüszt sich französisch: Wange an Wange mit Umarmung und Mundgeräusch. Schlieszlich kommt der Bürgermeister und hält die Begrüszungsrede. Jan und ich sind bei der Arbeit und können uns nicht so sehr auf die Worte konzentrieren, wissen aber, dass sich alle freuen, willkommen sind, in Freundschaft verbunden...



Nebenbei beginnen wir mit Recherchen (das ist ein französisch Wort) über die Städtepartnerschaft, wie es dazu kam, Jan fragt nach Initiative und Personen. Wir erfahren von einer Zufallsbegegnung von Feuerwehrleuten in Herbertingen, von den Jahren des Austauschs und davon, dass zur Erhaltung der Lebendigkeit der Begegnungen nun für alle Teilnehmenden Privatquartiere gefunden werden konnten. Auch eines für Jan und eines für mich. Keine Jugendherberge mit Doppelzimmer und vielleicht Leuten, die die Nachtruhe stören, wo man noch am Computer rumhängt, Material sichtet und die halbe Nacht Geschichten erzählt anstatt zu schlafen. Wir schaffen es, doch gemeinsam untergebracht zu werden und lernen unsere Gastgeber kennen: Madame und Monsieur Malnuit. Madame kommt aus der Pfalz und spricht ebenso deutsch wie Monsieur Malnuit.
Die freuen sich und schon sind wir im Auto, dann im Haus, wo wir eingegastet werden. Wir kriegen doch ein Doppelbett. Aber das ist nicht alles: Im Wohnzimmer ist bereits gedeckt. Das Abendessen wartet. Auf dem Tisch steht, was am Abend auf dem Tisch steht. Brot, Butter, Wurst und danke, nein leider kein Wein. Ich habe Hunger auf Fleisch, denn das biszchen Hähnchen von der Raststätte genügt nicht. Zur Kurzweil wird der Fernseher eingeschaltet, der aber dezent und unbeachtet im Hintergrund bleibt. Unsere Gastgeber meinen es gut mit uns und wir bekommen viele Informationen und Wurst. Als ich fast satt bin, kommt das Gespräch auf Paella. Ich denke an Paella, Sitges, Mireia.
Meine Gedanken wollen abschweifen.
Ich mag Paella. Das ist gut, denn die ist auch schon fertig und schmeckt ganz prima, auch wenn diesmal kein Fisch drin ist, sondern Fleisch. Doch damit nicht genug. Das Essen ist noch nicht beendet. Denn es kommt der Käse. Eine Sorte kenne ich schon und halte mich daran, auch weil sie so heiss empfohlen wird. Dann aber bekomme ich noch mehr Informationen und einen kleinen Käseschneidekursus. Madame Malnuit äussert sich verständnisvoll, sie hat das auch erst lernen müssen. Zum Dessert nehme ich noch einen Joghurt.
Das Abendessen ist vorbei und wir verweilen bei Wein und Saft. Während mich Monsieur über die Arbeit als Gendarm informiert, erfährt Jan eine Menge über Neu-Kaledonien. Jan weiss ja auch, wo das liegt. Mir wird klar, was Kanaken sind. Die Themen sind vielfältig und ich erfahre weiteres über sozialistische Regierungen, die 35-Stunden-Woche, Inzucht auf Korsika. Zwischendrin merke ich, wie nicht nur meine Gedanken davonschweifen wollen. Ich rolle kurz mit den Augen, finde mich peinlich und fühle mich plötzlich sehr abgespannt, denn es war ein langer Tag, eine lange Fahrt, ein langes Abendessen.
Irgendwie kommen wir noch weg, schöpfen etwas Luft, besichtigen den noch leeren Markt, ein Cafe und machen Pläne für den nächsten Tag. Dann sind wir zurück. Ich lade meine Fotos ins Powerbook, bereite diese Seite vor.
Meine Gedanken schweifen umher. Ich bin deprimiert. Eine Notiz entsteht.

Am Morgen geht es dann los. Die Stände in unserem deutschen Zelt werden aufgebaut. Wir türmen Holzkisten und Kinderstühle neben Drehblocks, dazwischen liegen Hui-Maschinen. (Die dürfen hier auch so heiszen, nicht aber in Polen, da ist es unanständig. Man darf ja auch in Spanien ein Auto nicht Pajero nennen.) Wir laufen mit der Kamera herum, versuchen Bilder zu fangen und haben auf der Kirchentreppe unser erstes Interview mit einem Initiator der Partnerschaft. Ansonsten ein angenehm französischer Morgen. Café con Leche ist Café au Lait (das wusste ich natürlich schon) aber er kann hier nicht mithalten. Noch ist der Markt nicht eröffnet und wir blödeln mit der Kamera.




Zwischen dem Markt und unserem temporären Zuhause liegt das Altersheim, wo wir heute zum Essen eingeladen sind. Das Altersheim ist klotzig. Auch in Frankreich wird wohl 1% der Bausumme für Kunst ausgegeben, was dem Altersheim ein Kleid aus bunten Fassadenkacheln beschert hat. Auf der Ecke links eine untergehende Sonne, oben Himmel. Da laufen wir jetzt immer vorbei, können uns von diesem Anblick nicht losreissen und nicht auf Bemerkungen verzichten. Ich sehe auch meine Sonne untergehen, fühle mich alt und deprimiert. Ich kriege einen regressiven Schub.
Meine Gedanken schweifen nicht mehr umher.



Doch heute sind wir ja nur zum Probeessen drin. Wir Schwaben kommen zuerst an und belegen die rechte Seite am Fenster, die Portugiesen die linke. Die Tchechen kommen zuletzt und in die Mitte. Wohlgeordnete Reihen, kein Durcheinander. Alle kriegen gleiche Portionen, nur ich, ich bekomme einen Blick extra und meine Portion ist doppelt so grosz wie Jan's. Endlich lernen wir unsere Nachbarn besser kennen. Ich werde nach dem Filmen gefragt und zeige auf Jan, denn ich bin nur der Kabelträger. Meinen Nachbarn wundert's, denn er glaubt, ich sähe so aus wie ... (eine Bewegung, eine Andeutung). Ja, so sehe ich aus und fühl mich auch so und bemerke genau, wie meine Umgebung für Anarchismen wohl wenig empfänglich sein würde.



Am Nachmittag öffnet der Markt wieder und ich bin auch wieder auf Pirsch mit der Kamera. Das pralle Leben treffe ich nicht an und auch die Aussteller trösten sich schon damit, dass am Sonntag alles viel lebhafter war, im letzten Jahr. Jan versorgt tapfer unseren Stand und führt Gespräche auf französisch. Ich kann ihn nur selten unterstützen, meistens nur mit einem "huii".


Heute abend ist das grosze Essen. Der Gemeindesaal ist schon mit Tellern geschmückt, darauf Pastete. Es ist halb sieben, Leute kommen und kommen. Wir fragen nach dem Programm, damit wir die Einsätze nicht verpassen und bringen die Kamera in Position. Während der Pastete kommt der Wein und die Tchechen singen ein "cheerio". Wir würdigen das, lassen die Gabel liegen und stehen auf. Dann sitzen wir und den Deutschen fällt auch ein Trinklied ein. Ich werfe die Gabel hin und stehe wieder auf. Dann singen die Portugiesen, aber erst, nachdem wir Gelegenheit hatten, uns zu setzen. Wir stehen auf, ich bleibe sitzen. Der Pastete folgt eine warme Vorspeise. Dann kommt das Hauptgericht. Jan und ich beschäftigen uns mit unseren Kameras und verzichten auf das zerschnittene Schwein.



Es folgt eine Pause, in der wir unsere Gastgeschenke überreichen können. Da hatte was mit der Kommunikation nicht geklappt. Jan und ich standen da wie Deppen. Doch dann gab es wieder zu filmen. In ausführlichen Ansprachen mit mehrsprachigen Übersetzungen wurden die offiziellen Geschenke, Danksagungen und Lobpreisungen übergeben. Sowas dauert und das Essen wird dadurch unterbrochen. Die Portugiesen - immer präsent und lebhaft - haben nun die Sache in die Hand genommen und spielen zum Tanz auf. Dann aber endlich kommt Schwaben. Unsere Gruppe versammelt sich auf der Bühne. Es wird das Lied von Lili Marlene zu Gehör gebracht und noch mehr deutsches Liedgut, vom Cowboy, der seine Jenny küsst und Lieder, die ich nicht kenne.


Dann sind die Tchechen dran, denn es geht strikt nach Protokoll. Elf Uhr war es auch schon gewesen und unsere Gastgeber sind müde. Wir wollen nicht die schwere Ausrüstung in der Nacht durch den Ort schleppen, auch unsere Gastfamilie nicht auf uns warten lassen und so schlieszen wir uns an. Das Dessert, Joghurt ist uns so entgangen.

Der Sonntag beginnt mit Regen, der kann sich zwischen Nieseln, Aufhören und Tropfen erst einmal nicht entscheiden. Es wird Mittag, bis das ausgestanden ist. Grosze Umsatz-Erwartungen sind nicht mehr aktuell und so freut man sich, als der Regen aufhört. Film haben wir reichlich und so gilt ab jetzt die Suche dem Besonderen. Meine kleine Kamera hilft dabei sehr, weil sie nicht sofort entdeckt wird.








Die Motive gehen mir aus und das Ende rückt näher. So nutze ich die Zeit, den Fauxpas mit dem Gastgeschenk auszubügeln, laufe ein paarmal noch am Altersheim vorbei und besorge unser Gepäck ins Zelt. Dort, wie überall auf dem Markt kam der Boom dann doch noch. Zwischen drei und sechs sind die Straszen voll, die Stände werden belagert als ob alles aufzuholen wäre. Ich filme Getümmel und bin mit meinen Gedanken unterwegs.
Schlusskapitel wird die Verabschiedung in der Stadthalle. Alle sind müde, alle wollen nach Hause, besonders der Busfahrer, der seine Arbeit noch vor sich sieht. Das hält die Verabschiedung im Zaume.

Jan und ich sprechen über Filmen, Close up's, Bilder und Realität, Reisen und Surrealität.
Der Bus hält auf einer groszen, leeren Rastanlage. Das Restaurant ist geschlossen und wir hasten durch die Dunkelheit zur Tankstelle. Neonlicht, Massagesessel (2 Euro), eine quietschende Klotür, ein Wochenende, ein Film.
Meine Gedanken finden keinen Platz, an den sie zurückkehren können.